Aufruf Keine Aufweichung des Gewaltschutzes
... durch die Novellierung der Verordnungen des Wohnteilhabegesetzes – WTG. Durch „Wunsch- und Wahlrechte“ für Leistungserbringer wird die gesetzlich verankerte Pflicht zum wirksamen Gewaltschutzkonzept ausgehebelt. Wir sehen darin eine problematische Entwicklung.
In der Antwort auf die schriftliche Anfrage der Abgeordneten Breitenbach und Schubert (Linksfraktion) vom 25.03.2025, beantwortet am 07.04.2025 durch Staatssekretärin Ellen Haußdörfer, heißt es zur Frage 3:
„Einrichtungsträger sollen künftig die Möglichkeit erhalten, anstelle der bisher üblichen Mitwirkung durch eine Bewohnervertretung ein einrichtungsindividuelles Mitwirkungskonzept zu entwickeln. Das Optionsmodell soll Elemente mittelbarer und unmittelbarer Beteiligung umfassen.“
Wir sehen darin eine problematische Entwicklung: Durch diese „Wunsch- und Wahlrechte“ für Leistungserbringer wird die gesetzlich verankerte Pflicht zum wirksamen Gewaltschutzkonzept ausgehebelt.
Deshalb fordern wir den Senat – konkret die Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege (WGP) – sowie die Mitglieder des Abgeordnetenhauses auf, im Rahmen des sich verzögernden Referent*innenentwurfs zur
- Berliner Wohnteilhabe-Mitgestaltungsverordnung (WTG-MitwirkV),
- Wohnteilhabe-Personalverordnung (WTG-PersV)
- sowie der Anpassung des Wohnteilhabegesetzes (WTG)
klare gesetzliche Regelungen zum verbindlichen Gewaltschutz sowie zur Einrichtung von Frauenbeauftragten in gemeinschaftlichen Wohnformen für Menschen mit Behinderung zu schaffen. Diese Regelungen sind maßgeblich, um § 37a SGB IX gerecht zu werden.
1. Gewaltbegriff im WTG erweitern und klar definieren
Der Gewaltbegriff im WTG muss in einer eigenen Norm definiert werden. Reproduktive Selbstbestimmung, strukturelle und digitale Gewalt, fürsorglicher Zwang sowie intersektionale Verschränkungen von Gewalt müssen ausdrücklich in dieser Norm benannt werden, um Schutzlücken zu schließen und Sensibilisierung zu fördern.
2. Gewaltprävention als gesetzliches Ziel im WTG verankern
Einrichtungen müssen verpflichtet werden, Gewaltprävention in ihrer Organisation systematisch zu verankern – mit Blick auf Bewohnende und Mitarbeitende sowie unter Berücksichtigung der Vielfalt von geschlechtlichen Identitäten und sexuellen Orientierungen sowie besonderen Vulnerabilitäten.
3. Mindeststandards für Gewaltschutzkonzepte gesetzlich festschreiben
Mindestvorgaben für Gewaltschutzkonzepte müssen verbindlich gesetzlich festgelegt sein. Die Umsetzung muss regelmäßig durch die Aufsichtsbehörde geprüft werden.
Die Mindeststandards müssen folgende Punkte umfassen:
- einrichtungsspezifische Risikoanalysen
- niedrigschwelliges, barrierefreies und unabhängiges Beschwerdemanagement
- Leitfäden bei Gewaltvorfällen und Verdachtsfällen
- Frauenbeauftragte in den Einrichtungen
- prüfbare Formen der Partizipation der Bewohnenden
- jährliche Fortbildungen für die Mitarbeitenden zu verschiedenen Gewaltformen
- Kooperation mit externen sozialräumlichen Beratungsstellen
- klare Verantwortlichkeiten bei Aufarbeitungsprozessen
4. Gewaltschutzkonzepte mit klaren Abläufen und echter Mitsprache
Gewaltschutzkonzepte müssen konkrete Handlungsanweisungen zum Umgang mit Gewaltvorfällen von Bewohnenden und Dritten in Einrichtungen enthalten. Bewohnenden muss die Mitgestaltung von Gewaltschutzkonzepten frühzeitig durch Partizipationsprozesse ermöglicht werden.
5. Gesetzlicher Auftrag zur Zusammenarbeit mit Beratungsstellen für Heimaufsichten
Die Aufsichtsbehörde muss einen gesetzlichen Auftrag haben, sich mit den Anti-Gewalt-Strukturen des Landes Berlin zu vernetzen. Bei Beschwerdeverfahren muss mit geeigneten externen Fachberatungsstellen zusammengearbeitet und eine Anbindung der Beschwerdeführenden sichergestellt werden.
6. Klarheit und Konsequenzen bei Gewaltmeldungen
Bei strafbewehrten Gewaltvorfällen, die von Mitarbeitenden der Einrichtung ausgehen, sollten Meldevorgänge der Strafverfolgungsbehörden eindeutig geklärt werden. Bei Verurteilungen ist die zuständige Aufsichtsbehörde zu informieren, um ein mögliches Berufsverbot umgehend prüfen zu können.
7. Mitgestaltung darf Mitwirkung nicht schwächen
Bei Einrichtungen, die sich für ein Mitgestaltungskonzept gemäß § 3 WTG-MitgestaltV-E entscheiden, ist sicherzustellen, dass die Partizipation der Bewohnenden nicht hinter den allgemeinen gesetzlichen Regelungen der WTG-MitgestaltV-E bzw. WTG-MitwirkV zurückbleibt. Mindestens ist die Aufzählung regelhafter Aussagen in § 3 Abs. 5 WTG-MitgestaltV-E um Aussagen zur Mitwirkung bei Schutzmaßnahmen (ähnlich § 10 Abs. 1 Nr. 8 WTG-MitgestaltV-E) zu ergänzen.
8. Die Sicht aller Bewohnenden muss zählen
Der § 12 Abs. 2 S. 2 WTG ist ersatzlos zu streichen. Grundsätzlich sollte allen Bewohnenden die Teilnahme an einer Befragung ermöglicht werden. Zudem müssen bei Bewohnendenbefragungen (§ 12 Abs. 2 WTG) Aspekte des allgemeinen Sicherheitsempfindens der Bewohnenden ergänzend systematisch abgefragt und ausgewertet werden. Die tatsächliche Durchführung der Befragungen durch inklusive Teams – die mit den Bewohnenden nicht in einem unmittelbaren Abhängigkeits-verhältnis stehen – muss regelmäßig durch die Aufsichtsbehörde überprüft werden.
9. Frauenbeauftragte verbindlich und wirksam einführen
Bei Leistungserbringern müssen verpflichtend Frauenbeauftragte in Wohneinrichtungen etabliert werden. Bei der Frauenbeauftragten muss es sich um eine Peer (Frau* mit Behinderungen) handeln.
Folgende Standards müssen gesetzlich geregelt werden:
- Aufgaben: Beratung, Information und Aufklärung zu Belangen und Rechten von Frauen
- Rechte: Vernetzungsarbeit, Beteiligung an einrichtungsinterner Gewaltschutzarbeit
- Rahmenbedingungen: selbstverwaltetes Budget, zeitliche Ressourcen, Unterstützung und Assistenz, Weiterbildung, Supervision
Die WTG-MitwirkV muss konkrete Quoten beinhalten, um einen einheitlichen und angemessenen Einsatz der Frauenbeauftragten zu gewährleisten.
Für die Leistungserbringer ist eine entsprechende Finanzierung dieser Maßnahmen sicherzustellen. Für die konkrete Umsetzung des Modells der Frauenbeauftragten sind die etablierten Fachstellen sowie die Interessenvertretungen von Frauen mit Behinderungen in Berlin einzubinden.
10. Gewaltschutz muss personell und finanziell sichergestellt werden
Leistungserbringer und Leistungsträger müssen ausreichend Fachkräfte sicherstellen. Dem „Fachkräftemangel“ darf nicht durch verringerte Personalschlüssel begegnet werden. Die Finanzierung der Leistungserbringer muss für alle Aspekte des Gewaltschutzes gewährleistet sein.
Für den weiteren Gesetzgebungs- und Regelungsprozess sind die Interessenvertretungen von Frauen mit Behinderungen zu beteiligen.
Unterzeichnende:
Netzwerk behinderter Frauen Berlin e.V.
BIG e.V.
Lebenshilfe Berlin e.V. & Lebenshilfe gGmbH
Gewaltschutz Einfach Machen (Kooperationsprojekt BIG e.V. & Lebenshilfe gGmbH)
Mutstelle
Peer-Beratungsstelle gegen Gewalt
Feministisches Netzwerk für Gesundheit Berlin
ASL e.V. – Arbeitsgemeinschaft für selbst-bestimmtes Leben schwerst-behinderter Menschen
MINA – Leben in Vielfalt e.V.
Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen des Landes Berlin
Interkulturelle Initiative e.V.
Starke.Frauen.Machen. e.V.
HILFE-FÜR-JUNGS e.V.
LIGA Selbstvertretung
LARA e.V. – Fachstelle gegen sexu-alisierte Gewalt an Frauen, Trans*, Inter* und nicht-binären Personen
Rad und Tat – Offene Initiative lesbischer Frauen e.V.
pro familia Landesverband Berlin e.V.
Sozialhelden e.V.
Frauenhaus Cocon – Cocon e.V. Frauenverein Berlin
Landesbeirat für Menschen mit Behinderungen des Landes Berlin
Prof. Dr. Rebecca Maskos, Professur für Disability Studies, Alice Salomon Hochschule Berlin
Prof. Dr. Sigrid Arnade, Honorarprofessorin ASH Berlin
Ronska Verena Grimm, Rechtsanwält*in
Katja von der Forst, Somatic Sex- & Intimacy Coach