BIG e.V. und S.I.G.N.A.L. fordern:

Sicherheit für Gewaltopfer: ärztliche Mitteilungspflicht an Krankenkassen bei häuslicher und sexueller Gewalt abschaffen

(2014/11) Seit 2013 müssen Ärzt/-innen und Therapeut/-innen Fälle von Misshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen gegenüber den Krankenkassen nicht mehr melden. Die Mitteilungspflicht kann sich aber auch für Betroffene häuslicher Gewalt negativ auswirken. BIG Koordinierung und S.I.G.N.A.L e.V. fordern daher eine Abschaffung der Mitteilungspflicht in Fällen häuslicher Gewalt gegen Erwachsene.

Hintergrund
2013 hat die Bundesregierung mit dem „Dritten Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ die Empfehlung des Runden Tisches „Sexueller Missbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen“ aufgegriffen und den § 294a Abs.1, S.2 SGB V geändert. Damit wurde die Mitteilungspflicht von Ärzten/innen und Therapeuten/innen gegenüber den Krankenkassen in Fällen von Misshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen abgeschafft.

Mit der o.g. Änderung hat der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung getragen, dass sich in Fällen möglicher Kindesmisshandlung und -vernachlässigung eine Mitteilung an die Krankenkassen und die sich daran anschließenden Schritte gegen den oder die Verursacher/in (Prüfung und Wahrnehmung von Regressmöglichkeiten) negativ auf den Behandlungserfolg auswirken können.
Bedauerlicherweise wurde die Änderung des § 294a Abs. 1 SGB V nicht zum Anlass genommen, die Mitteilungspflicht auch in Fällen häuslicher Gewalt gegen Erwachsene abzuschaffen. S.I.G.N.A.L. e.V. und BIG e.V. fordern diesen Missstand abzustellen.

Begründung
Auch erwachsene Opfer von Gewalt in nahen sozialen Beziehungen befinden sich aufgrund der Nähe zur gewaltausübenden Person in einer spezifischen Konflikt- und Gefährdungssituation. Die bestehende Mitteilungspflicht und die Regressforderung der Krankenkasse gegenüber der Gewalt ausübenden Person wirken sich negativ auf den Behandlungserfolg aus und können Betroffene in massive Gefährdungssituationen bringen. So kann beispielsweise das Wahrnehmen eines Folgetermins durch den Täter/die Täterin verhindert werden oder es kommt zu erneuten Bedrohungen und ggf. zu eskalierenden Gewalthandlungen.

Untersuchungen zeigen, dass die Mitteilungs- und Anzeigebereitschaft von Opfern häuslicher Gewalt grundsätzlich niedrig ist. Sorge vor weiteren Gewalttaten und familiären Belastungen sind - neben Schuld- und Schamgefühlen - dafür wesentlich (WHO 2013; FRA 2014). Für Fachkräfte in der Gesundheitsversorgung ist es von höchster Bedeutung Informationen über häusliche Gewalterfahrungen vertraulich behandeln zu können. Erst diese Zusicherung (Schweigepflicht) ermöglicht es vielen Betroffenen über Gewalterfahrungen und eine aktuelle Gefährdung zu sprechen und Ver-sorgungsangebote in Anspruch zu nehmen. Nicht verkannt werden sollte hier, dass das Ziel der Behandlung/Therapie auch sein kann, das Opfer überhaupt erst in die Lage zu versetzen sich aus einer bestehenden Gewaltbeziehung zu lösen und den Täter anzuzeigen (Sekundärprävention).

Überdies können Betroffene die ärztliche Mitteilungspflicht an die Krankenkassen als erneuten Kontrollverlust erfahren, was sich kontraproduktiv auf den Gesundungs-und Bewältigungsprozess aus-wirken kann.
Ärzte/innen und Therapeuten/innen sind ideal platziert, um Betroffenen Hilfe anzubieten. Opfer suchen häufiger Angebote der Gesundheitsversorgung auf, als nicht von Gewalt Betroffene. Außerdem genießen Ärzte/innen und Therapeuten/innen hohes Vertrauen (höher als z.B. die Polizei und Beratungsstellen) seitens der Betroffenen (Müller/Schröttle, 2004).

Wenn auch in Fällen häuslicher Gewalt gegen Erwachsene eine Ausnahme von der Mitteilungspflicht besteht, ist dies eine wesentliche Voraussetzung, um die herausragenden Interventions- und Präventionschancen des Gesundheitsbereichs bei häuslicher und sexueller Gewalt zu nutzen und entsprechende Empfehlungen der EU und der WHO in Deutschland umzusetzen (vgl. Instanbul-Konvention, FRA 2014, WHO 2013). Für Fachkräfte der Gesundheitsversorgung wird damit die dringend erforderliche Handlungssicherheit und Auftragsklarheit im Umgang mit der Problematik häuslicher Gewalt hergestellt.

Möglicherweise kann das Nichtbestehen der Mitteilungspflicht in Fällen häuslicher Gewalt gegen Erwachsene auch dazu beitragen, Daten zur Prävalenz der Problematik und ihren gesundheitlichen Folgen zu gewinnen (ICD 10).
Von der Mitteilungspflicht an die Krankenkassen ausgenommen sein sollen daher - neben gefähr-deten Kindern und Jugendlichen - zukünftig auch Erwachsene, die körperliche, sexuelle und/oder psychische Gewalt durch einen derzeitigen oder ehemaligen Partner bzw. eine Partnerin erfahren haben. Einzubeziehen sind dabei auch ältere, pflege- oder assistenzbedürftige Menschen, die von Familienangehörigen/Partner/innen gepflegt und durch diese misshandelt werden sowie Menschen mit Behinderungen, die im institutionellen Kontext durch Mitarbeitern/innen, Kollegen/innen oder anderen Bewohnern/innen misshandelt werden.

Die Regresspflicht nach §294a Abs. 1 SGB V soll mit dieser Änderung nicht in Frage gestellt werden. Sie ist wichtig, um Täter für ihr Handeln in Verantwortung zu nehmen. Sie darf jedoch nicht auf Kosten einer ursachenadäquaten Gesundheitsversorgung und der zielgerichteten Unterstützung und Sicherheit von Opfern erfolgen.

Änderung
S.I.G.N.A.L. e.V. und BIG e.V. fordern daher, dass § 294a Abs. 1 SGB V um den folgenden Satz 3 erweitert wird:
Die Mitteilungspflicht gem. S. 1 besteht weiter nicht bei Hinweisen auf drittverursachte Gesundheitsschäden an erwachsenen Personen, die körperliche, sexuelle und/oder psychische Gewalt durch Personen aus dem nahen sozialen Umfeld erfahren haben.
Berlin, 10.11.2014

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T: 030-617 09 100, wildvang@big-koordinierung.de

S.I.G.N.A.L. e.V., Karin Wieners
T: 030-275 95 353, wieners@signal-intervention.de

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